Montag, 3. April 2017

Kreidler - "European Songs"

Kreidler. Foto: Chrisa Ralli & Melina Pafundi
(ms) Während das Radio belanglos wie eh und je vor sich hinplätschert, entdecken andere Musikgenres ihr Potential an Aktualität und Aussagekraft. Oder es wird wiederentdeckt. Der Punk ist nicht mehr so laut wie vor zehn Jahren, er ist immer noch links und gegen Nazis, aber ihm wurde das Heft aus der Hand gerissen. Hauptsächlich vom Rap und HipHop, der mit Vertretern wie der Antilopen Gang, Zugezogen Maskulin, Neonschwarz, Waving The Guns und Sookee kräftig auftrumpft und Stellung bezieht.
Ihr Vorteile liegen dabei klar auf der Hand: Sie sind gut organisiert, nicht jeder neue Song muss auf einem Album landen, ein Video ist schnell gebastelt, sie sind digital vernetzt und erreichen in wenigen Tagen eine große Reichweite. Sie peitschen gegen Höcke, le Pen, Wilders, Orban und Co. mit viel Text; mitunter mit viel Aggression.
Dass politisch-musikalischer Widerstand auch anders aussehen kann, beweisen die elektronischen Veteranen Kreidler dieser Tage. Ihr 13. (!) Album "European Songs" erscheint am Freitag über Bureau B. Doch wie kann Musik, die ohne Text auskommt, politisch sein?



Das ist natürlich nicht so einfach und schnell zugänglich wie ein dichter Text im Rap, der dem Hörer sehr direkt entgegenschlägt.
Zum Einen muss hier der Entstehungsprozess der fünf-Song-kurzen Albums getrachtet werden. Denn im Herbst letzten Jahres - die vierköpfige Band kam gerade von einer kleinen Tour zurück - war eigentlich alles klar. Neues Material stand bereit, der Termin zum finalen Mastering gebucht; alles sieht gut aus.
Bis auf das Ergebnis der Wahl in den USA. Zwei Millionen Stimmen weniger als die Konkurrentin bescheren der irren Frisur mit handfesten Nationalisten im Rücken den Chefsessel im Oval Office. Was er bislang alles angestellt hat, ist bekannt. Nebenbei pöbelt Putin. Es schreit und hetzt und lässt verhaften Erdogan so gut es geht. Die Briten sind raus aus der Europa, Orban hat sich abgeschottet, le Pen wettert gegen alles Fremde. Modi in Indien baut den Statt um. Das einzige Trostpflaster: Wilders hat in den Niederlanden nicht so stark abgeschnitten wie befürchtet.
Wie als Band auf diese internationalen Bewegungen reagieren, auf die man skeptisch schaut?
Kreidler gehen einen radikalen Weg, veröffentlichen die Platte nicht wie gewollt; schließen sich in den Proberaum ein, verschieben den Master-Termin und legen los, improvisieren. Das Ergebnis sind folgende Songs: Boots, Kannibal, Coulées, Radio Island und No God = gut 35 Minuten Musik.
Diese Lieder sind Kunst, vielleicht Avantgarde und stehen klanglich - wie könnte es anders sein, wenn man aus Düsseldorf kommt - Kraftwerk nahe.
Und sie sind alle düster. Vielleicht sehen sie alle das Schlimmste kommen, eine politische Umkrämplung in Europa. Ein dystopisches Soundgewand scheppert aus den Boxen, wenn Schlagzeug, Gitarre und Synthesizer erst richtig loslegen. Als Momentaufnahme ist es herausragend, man muss sie alle nacheinander, komplett hören, es lohnt nicht, jeden einzelnen Song auseinanderzunehmen. Das ist ein Gesamtwerk, das toll funktioniert, bei dem man auch etwas Angst bekommen kann.
Doch: Brauchen wir dieser Tage nicht eher Hoffnung, Zuspruch wie die jüngste Pro-Europa-Bewegung? Klar.
Es ist jedoch genauso gut verständlich, dass das Klein, Weinrich, Paulick und Reihse letztes Jahr nicht als erstes in den Sinn gekommen ist.
Kreidler. Euopean Songs. Ganz stark!

Hier spielen sie live:

17.05 - Leipzig - Conne Island
18.05 - Berlin - Kantine am Berghain
01.05 - Köln - Kulturkirche
02.06 - Schorndorf - Manufaktur
03.06 - Offenbach - Hafen 2
06.06 - Bielefeld - Kunsthalle (Reihe Geschwätz)
09.06 - Belgrad - Brugstore Beograd
10.06 - Skopje - Zdravo Mladi Festival
15.07 - Puch (bei München) - Puch Open Air
05.10 - Hamburg -Hafenklang

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